Ikonen
Quelle: Seiten 68-78 aus „Der heilende Kuss der Gottesgebärerin – Marienverehrung aus psychologisch-logotherapeutischer Sicht“, Master-Thesis Christian R. Buschan in Spiritueller Theologie, 2011 Universität Salzburg. Betreuer: Univ.-Prof. Dr. Grigorios Larentzakis, Graz und Chania (Kreta). Publiziert 2012 im Fromm-Verlag Saarbrücken, ISBN 978-3-8416-0306-7
Die Ikonen der Ostkirchen repräsentieren die transzendente Wirklichkeit Gottes und alles Heiligen auf eine Weise, die nicht einzig den Auffassungen der Kirchenväter, sondern auch zeitgenössischer Theologie entspricht:
„Wenn transzendente Wirklichkeit alles übersteigt, so übersteigt sie auch alle unsere Möglichkeiten, sie zu erfassen. Um erneut Anselm von Canterbury zu zitieren: Wenn Gott das ist, worüber hinaus Größeres nicht gedacht werden kann, dann muss Gott größer sein als alles, was gedacht werden kann (Proslogion 15). Auch zu dieser Einsicht finden sich, wie zuvor gezeigt, zahlreiche Parallelen innerhalb aller großen religiösen Traditionen.43 Sie gebietet mit geradezu eherner Strenge, sich kein Bild von der göttlichen Wirklichkeit zu machen, auch kein theologisches! Oder genauer gesagt, diese Wirklichkeit erweist alle unsere menschlichen Bilder von ihr als vorläufig, da sie immer größer bleibt als alles, was diese Bilder erfassen und ausdrücken. Keines unserer Gottesbilder und keine unserer Transzendenzvorstellungen darf an die Stelle dieser Wirklichkeit selbst gesetzt werden. Die Demut angesichts der absoluten Transzendenz der letzten Wirklichkeit verbietet jede Verabsolutierung ihrer symbolischen, dogmatischen oder kultischen Repräsentationen. Kein endlicher Hinweis auf das Unendliche vermag dessen Unendlichkeit zu erschöpfen oder gar zu ersetzen. Diese Einsicht kann uns einerseits davor bewahren, die eigene religiöse Tradition absolut zu setzen. Und andererseits kann sie uns zu der Einsicht führen, dass dort kein Götzendienst vorliegt, wo in gleicher Radikalität die alles übersteigende Erhabenheit dieser letzten Wirklichkeit bekräftigt wird.“[1]
„Durch die Ikone, die die Gegenwart göttlicher Kräfte symbolisiert, lebt der Mensch in einer fühlbaren Nähe Gottes. Er gibt sich willig in Seine Hand und er weiß sich demütig mit dem Kosmos und aller Kreatur verbunden, in die sein Schicksal eingeschlossen ist.“[2]
Ikonentheologie
In der Ikone geht es „wesentlich um Vergegenwärtigung und Verkündigung der Heilswirklichkeit (genauer: um deren Epiphanie).“[3] Wer heilige Ikonen mit Ehrfurcht ansieht, erschaut das Wesen der Dargestellten. In der Ikone wird die Gegenwart Gottes, die Menschwerdung seines Sohnes, das Wesen der Gottesgebärerin und aller Heiligen erfahrbar. Ihr Bild ist Symbol, ist Träger ihrer Gegenwart. Deswegen wird die heilige Ikone mit großer Ehrfurcht behandelt, sie wird gesegnet, mit Öllämpchen erhellt, gegrüßt, geküsst, verehrt. „Jede Ikone, die wir verehren, sagt uns: ‚Du, der/die mich küsst und dich vor mir verneigst, bist auch Ikone und sollst immer mehr und immer neu Ikone werden!“ [4] Ikonen sind heilige Elemente gelebter Eucharistie – sei es im Gottesdienst oder in der Wohnung der Gläubigen. Wenn wir essen, verwandeln wir die Speise in uns. In der Eucharistie ist es umgekehrt: Die geheiligte Speise, die wir dabei empfangen, verwandelt uns in sie selbst, wir werden gewandelt zum Leib Christi. Doch bedenken wir dabei: „Nur tot kann das andere Wesen den Menschen ernähren…Die Einverleibung ist ein Vorgang der Vernichtung…Essen und Trinken sind Weisen, wie der Mensch sich Wirklichkeit aneignet und wirklich erhält.“[5] Die Ikone als Abbild alles Heiligen unterstützt auf geistiger Ebene diese Aneignung und Wandlung. Damit lehrt sie uns gnadenhaft, unsere Nächsten zu lieben wie uns selbst.[6] Denn je mehr wir Gott durch sein Abbild hindurch lieben mit Ehrfurcht, Zartgefühl und Heiligkeit, umso mehr lieben, absorbieren und verkosten wir das nach dem lebendigen Abbild Gottes Geschaffene: Seinen Sohn Jesus Christus, unseren Nächsten und uns selbst.[7] Ikonen vermitteln uns die Gegenwart der Heilsgeheimnisse. Sie schenken uns die Möglichkeit, uns in den Raum der Gegenwart Gottes hineinzubegeben, sie lehren uns, ehrfürchtig vor Gott zu stehen, Ihn anzubeten, Ihn anzuflehen – und nicht etwa das gemalte Bild als solches. Ikonographie bedeutet nicht zwingend, dass Ikonen „geschrieben“ statt gemalt würden, wie oft gesagt wird.[8] Ikonographie bedeutet vielmehr eine Methode zur Erschließung und Deutung einzelner Bildelemente von Ikonen. Diese sind selber „Heilige Schrift“ und haben oft eine ähnlich offenbarende Kraft. So ist die berühmte „Hagia Trias“ des russischen Malermönchs Andrej Rubljow eine symbolische und genaue Darstellung der Dreifaltigkeitslehre.
„Den Stellenwert der Ikone im orthodoxen Glauben formuliert bereits die Synode von 870 in Konstantinopel: »Die heilige Ikone unseres Herrn Jesus Christus ist in gleicher Weise zu ehren wie das Buch der heiligen Evangelien. Denn was in Silben die Rede, das kündet und empfiehlt auch die Schrift, die aus den Farben besteht. Wer daher die Ikone unseres Erlösers nicht verehrt, der soll auch bei seiner zweiten Ankunft seine Gestalt nicht schauen. Auch malen wir die Ikone seiner allreinen Mutter und die Ikonen der heiligen Engel, wie diese ja auch die Heilige Schrift in ihren Worten charakterisiert, und weiter die aller Heiligen, und wir verehren sie und fallen nieder vor ihnen. Wer aber dies nicht annimmt, der sei ausgeschlossen!«“[9]
„Über Jahrzehnte wütete seit Beginn des 8. Jahrhunderts der sogenannte »Bilderstreit«. Kaiser Leon III. (717-741) betrieb aus Gründen der Staatsräson einen Kampf gegen die religiöse Bilderverehrung. Die legendäre Beseitigung der Christusikone am Chalketor des Kaiserpalastes 726 war ein erstes Zeichen, dem 730 ein Edikt gegen den Ikonenkult folgte: Bilderkult sei Götzenkult. Vehementer Widerstand kam nicht nur aus dem Reich selbst, sondern auch von außerhalb, etwa in den Drei Reden zugunsten der Bilder des Johannes von Damaskus (670-750).[10] Mit den Argumenten dieses Johannes‘ setzte sich Kaiser Konstantin V. (741-775) in seiner Schrift Anfragen auseinander. Wenn Urbild und Abbild wesenseins seien, müsse in den Christusikonen die göttliche Natur des Inkarnierten mit präsent sein. Das zu glauben sei aber Blasphemie. Dieser Argumentation folgend verwarf die bilderfeindliche Synode von Hiereia im Jahre 754 den Bilderkult. Kaiser Konstantin V. ging in seinem Kampf so weit, dass er Klöster in Kasernen umwandeln ließ, da sich dort Widerstand gegen die Ablehnung der Bilder sammelte. Erst die für den minderjährigen Konstantin VI. (780-797) regierende Kaiserin Irene konnte auf dem 7. Ökumenischen Konzil von Nicäa 787 die Rechtgläubigkeit der Bilderverehrung festschreiben.[11] Als Leon V. (813-820) mit seiner Forderung an den Patriarchen Nikephoros (806-815), die Ikonen (nur die tiefer hängenden Bilder, nicht die Fresken) aus den Kirchen zu entfernen, auf den Widerstand des Patriarchen sowie des Abtes Theodor Studites (759-826) stieß, entbrannte die zweite Phase des Kampfes um die Bilder. Die besonders den Bilderkult stützenden Mönche mussten ins Exil gehen. Kaiser Theophilos (829-842) machte seinen früheren Grammatiklehrer zum Patriarchen. Dieser Patriarch, Johannes VII. (837-843), stellte einen der bedeutendsten Vertreter des Ikonoklasmus (der Bilderfeindschaft) dar. Doch der Kaiser hatte eine bilderfreundliche Frau, Theodora, die nach seinem Tod für ihren minderjährigen Sohn Michael III. (842-867) regierte und auf der Synode von Konstantinopel 843 den Bilderkult erneut positiv bestätigte. Seither wird dieser Akt als »Fest der Orthodoxie« im Kirchenkalender memoriert. Im Anschluss an den 117jährigen Kampf um die Verehrung der Bilder kam es unter dem Patriarchen Photios (820-897) zum erneuten Schisma mit Rom.“[12]
Die beiden ersten der drei Bilderreden des Johannes von Damaskus waren Schutzreden zur Rettung der Bilder nach den bilderfeindlichen Edikten von 726 und 730 des griechischen Kaisers Leo III.[13] Sie enthalten jene grundlegenden Gedanken, die bis heute die wissenschaftlichen Grundlagen zugunsten der Bilderverehrung abgeben.[14] Die dritte Rede erscheint in ihrem sachlichen Duktus wie eine nüchterne Zusammenfassung aller bereits ausgeführten Argumente zugunsten der Bilder. Zentrale Stellen sind:
„Denn wenn wir das Bild des fleischgewordenen, auf der Erde im Fleisch erschienenen Gottes, der mit Menschen verkehrte und um seiner unsagbaren Güte willen Natur, Dichte, Gestalt und Farbe des Fleisches annahm, betrachten, dann täuschen wir uns nicht; wir verlangen nämlich danach, sein Wesen zu sehen. Wie sagt doch der göttliche Apostel: ‚Wir sehen jetzt durch einen Spiegel rätselhaft‘ (l Kor 13,12).“[15]
„Wie kann das Unsichtbare abgebildet werden? Wie kann das Unabbildbare abgebildet werden? Wie kann man beschreiben, was ohne Maß, Größe und Grenze ist? Wie kann das, was ohne Gestalt ist, mit einer bestimmten Beschaffenheit versehen werden? Wie kann man etwas, das ohne Körper ist, in Farbe wiedergeben? Was also ist das rätselhaft Angedeutete? Es ist offensichtlich, daß Du, wenn Du den Körperlosen siehst, der um Deinetwillen Mensch geworden ist, dann das Abbild des Sichtbargewordenen schaffen wirst; wenn der Unsichtbare im Fleisch sichtbar geworden ist, dann wirst du das Abbild der menschlichen Gestalt schaffen; wenn der Körper- und Gestaltlose, der ohne Maß, Alter und Größe durch den Vorzug seiner Natur in der Gestalt Gottes ist, der Knechtsgestalt angenommen hat (vgl. Phil 2,6-7), durch eine solche Umhüllung Maß, Alter und Körpergepräge erhält, dann ritze ihn auf einer Platte ein und stelle ihn, der es auf sich genommen hat, gesehen zu werden, zum Anschauen aus! Präge in Metall sein unaussprechbares Herabsteigen, die Geburt aus einer Jungfrau, die Taufe im Jordan, die Verklärung auf dem Berge Tabor, die Leiden als Vermittler der Freiheit von Sünde, die Wunder[16], die Merkmale seiner göttlichen Natur, die durch Mitwirkung des Fleisches mit göttlichem Wirken geschaffen werden, das heilbringende Kreuz, das Begräbnis, die Auferstehung und das Auf-steigen in den Himmel! All das magst Du in Wort und Farbe darstellen! Fürchte dich nicht und hab‘ keine Scheu; ich kenne den Unterschied bei den Verehrungen…Denn der Dienst der Anbetung ist das eine und das andere das Darbringen aus Ehrfurcht denjenigen gegenüber, die einer bestimmten Würde nach uns überragen.“[17]
Der alles entscheidende Unterschied zwischen dem Verehren menschgeschaffener Abbilder und dem Anbeten des göttlichen Urbildes, war absolut zentral bei Johannes und blieb es bis heute. Doch der Streit um das Verhältnis zwischen Abbild und Urbild beunruhigte bereits im 4. Jahrhundert das Leben der Wüstenväter und der frühen Kirchenväter. So schreibt Athanasius[18] am Ende des 74. Kapitels seiner Vita Antonii:
„Unser Glaube lehrt die Gegenwart Christi zur Rettung der Menschen. Ihr aber irrt, wenn ihr von der unerzeugten Seele sprecht. Wir denken an die Macht und Menschenfreundlichkeit der Vorsehung, dass auch dies für Gott nicht unmöglich war. Ihr, die ihr die Seele ein Bild des Nus [19] nennt, schreibt ihr Unfälle zu und redet von ihrer Veränderlichkeit. Und dann behauptet ihr auch vom Nus selbst mit Rücksicht auf die Seele Veränderlichkeit. Denn wie das Bild, so muss notwendig auch das sein, dessen Abbild es ist. Wenn ihr aber über den Nus so denkt, dann überlegt doch, dass ihr auch den Vater des Nus selbst schmähet.“[20]
„Die maßgebliche theologische Darlegung zur Ikonentheologie lieferte der christlich-arabische Theologe Johannes von Damaskus (670-750). Seine Bildertheologie erweist sich als mit der Christologie eng verbunden. Er wage nur deshalb ein Bild des unsichtbaren Gottes zu malen, weil es das Bild des um unseretwillen durch Fleisch und Blut sichtbar gewordenen Gottes sei. Er male also gar kein Bild des unsichtbaren Gottes, sondern vielmehr das sichtbare Fleisch Gottes. Wenn Gott, der Körper-lose und Unsichtbare, Mensch werde und sichtbar, dann dürfe auch das Bild seiner menschlichen Gestalt gemalt werden, die doch sichtbar war. Ja, Johannes forderte gerade dazu auf, alles im Bild zu beschreiben, was an Ereignissen im Leben Jesu zu beschreiben sei, von der Herablassung des Geistes über die Verklärung auf dem Tabor bis hin zu Auferstehung und Himmelfahrt. Dies alles sei zu beschreiben sowohl durch Worte als auch durch Farben. Für das Auge sei das Bild, was für das Ohr das Wort. Das Bild sei für den Analphabeten, was das Buch für den Leser. Wie das Wort bringe auch das Bild Verständnis. Johannes bewegte sich auch in seiner Bildertheologie bewusst in den Bahnen der von ihm mitgetragenen und mitgestalteten Tradition. Das fundamentale Schlüsselwort seiner Bildertheologie stellt ein Wort des Basilius von Cäsarea (329-379) dar, dass die Ehre, die dem Bild erwiesen werde, auf das Urbild zurückgehe. Es versteht sich, dass Johannes dies nicht als Formulierung seiner Theologie ausgab, sondern bewusst als ein Wort der Tradition. War er es doch gewesen, der von sich sagte, dass er nichts Eigenes sage. Daher schloss er gleich an das Zitat die Worte an, dass dies der heilige Basilius gesagt habe. Dies entsprach der Maxime all seiner theologischen Lehre. Die Verehrung der Ikonen fand ihren Niederschlag natürlich auch in den Kirchen und in der Liturgie, wo etwa am ersten Fastensonntag gesungen wird:
Das nicht umschreibbare Wort des Vaters hat durch seine Fleischwerdung aus dir,
Gottesmutter, sich selbst umschrieben. Und indem es das befleckte Bild in seiner
Urgestalt wiederherstellte, durchdrang es dieses mit göttlicher Schönheit.
Wir bekennen die Erlösung und bilden dies in Werk und Wort ab“[21]
Aus den beiden ersten Jahrhunderten sind bisher keine autonomen Marienbilder bekannt. Erst im 3. und 4. Jahrhundert wurde Maria auf römischen Sarkophagen dargestellt – jedoch immer in biblischen Szenen, die etwas über ihren Sohn aussagten, wie zum Beispiel auf Weihnachtsbildern. Selbst „der Kirchenvater Augustinus [22] stellt noch fest: Von der Gestalt der Jungfrau weiß man nichts.“[23] Ende 5. und Anfang 6. Jahrhundert kommen Szenen aus Legenden und aus dem Prot-Evangelium des Jakobus‘ [24] hinzu. Für das Marienverständnis der Orthodoxie waren und sind jedoch nicht diese „Erzählbilder“ zur Gottesmutter zentral wichtig, sondern autonome Bilder, die Jesus und seine Mutter allein oder die Gottesgebärerin mit ihrem Kind darstellen. Für die orthodoxe Theologie ist die Christus-Ikone die wichtigste Ikone schlechthin.[25]
Grundlegendes zu Ikonen
Bilder sind wirkmächtig, Menschen sind seit alters her auf der Suche nach dem heilenden, weil heiligen Bild. Doch der heutige Mensch macht sich selbst zum Maßstab dessen, was sich ihm zeigt, „er lässt nur zu, was er sehen will. In extremer Weise stellt das Fernsehen nur noch ‚Ausschnitt‘ von Wirklichkeit dar. Das Fernsehbild rückt bereits durch [absichtsvolle Auswahl und] Weglassen nahe an die Lüge heran.“[26] Das Sehen – und wie viel mehr das Schauen – soll ja nicht bloß das äußerlich Gesehene entfalten, sondern dessen innerliche, ja innerste Bedeutung. Darin liegt die schöpferische Kraft und Heilungsmöglichkeit des schönen, wahren und guten und damit heiligen Bildes. Bilder, die vom bösen Abfall und Unrat der Welt künden, vermehren diesen nur. Heilige Bilder widerstehen den bösen und beenden zumindest im Ansatz das Böse. Bereits die erste Bilderrede des Johannes von Damaskus enthält Hinweise auf die exorzistische Wirkung der Ikonen.[27] Freud formulierte in seiner Psychoanalyse den Wunschcharakter des Bildes deutlich, Bild und unbewusster Wunsch stehen in enger Verbindung zueinander. „Auf der Ebene des Unbewussten herrscht die Ordnung des Bildes mit seinen Gesetzen, die mit dem Gesetz der Traumarbeit zusammenfallen.“[28] Das im Bild Dargestellte wirkt auf die inneren Triebsphären und weckt das Begehren. Der globale Erfolg bildhafter Werbung jeglicher Art spricht seit Jahrtausenden für sich selbst. Ziel des geweckten Verlangens ist Besitz oder Konsum des im Bild Dargestellten. Doch zunächst scheint das Bild radikal getrennt von der dargestellten Sache oder Person an sich. Kann dieser Zwiespalt gedanklich wie z. B. in der meditativen Einung, oder tatsächlich wie beim Konsumieren, überwunden werden, wird aus dem Wunsch Erfüllung. Bleibt jedoch der „Abstand“ zwischen Sehendem und Gesehenen bestehen, bleibt auch die Spannung zwischen Wunsch und Erfüllung bestehen, wird das Begehren frustriert. Diese Frustration ruft nach Erlösung, ruft Gefühle hervor, bewegt zu Taten. An diesem Punkt ist aus menschlicher Sicht alles möglich: enttäuschtes Erstarren und Verharren, Ärger, Zorn, Jähzorn[29] und Wut über die vermuteten oder bekannten Gründe der Versagung, motiviertes neu Aufbrechen, geduldiges Wiederholen des gescheiterten Versuchs zum Erreichen des im Bilde Dargestellten, gläubiges Bitten um göttlichen Beistand, usw. Dies alles ist auch beim Sehen und Betrachten, beim Schauen und Verehren heiliger Bilder, von Ikonen möglich. Das 2. Idiomelon aus der großen Vesper vom „Sonntag der Orthodoxie“ kann uns dies ahnen lassen:
„Obwohl Du Deiner Natur nach unbegrenzt bist, hast Du Dich, o Herr, in jüngster Zeit gewürdigt, durch die Fleischwerdung begrenzt zu werden. Indem Du Fleisch annahmst, hast Du dessen Wesenheit völlig mit übernommen. Dieses Bild Deiner Ähnlichkeit stellen wir dar, um es würdig zu verehren und zu Deiner Liebe erhoben zu werden. Aus ihm schöpfen wir die Gnade unseres Heils, da wir der göttlichen Überlieferung der Apostel folgen.“
„…um zu Deiner Liebe erhoben zu werden“ – ein Wunsch und Begehren, wie es Christinnen und Christen kaum inniger formulieren könnten. Und aus dem Gott wesensähnlichen Christusbild wollen die Gläubigen die „Gnade unseres Heils schöpfen“. Was aber, wenn ausgerechnet diese Begehren frustriert werden? Dann schlägt die Stunde der Logotherapie: Das Leiden an der vorläufigen Versagung verwandeln in ein Leisten gläubigen Ausharrens. Damit sind wir beim scheinbar paradoxalen Bindeglied zwischen zärtlich-hingebungsvoller Ikonenverehrung, sinnorientierter Logotherapie und der besonderen Leidensfähigkeit der Gläubigen der Ostkirchen. Die drei logotherapeutischen „Hauptstraßen zum Sinn“[30] Frankls zeigen sich hier in schöner Klarheit: Ikonenverehrung kann zunächst und aus sozialpsychologischer Sicht als eine konstruktive Beziehungsleistung des gläubigen Menschen aufgefasst werden. Dann bewirkt sie aber auch ein Anwachsen des Willens zur guten Tat: die Schau des Schönen und Guten in der Ikone verlockt zur schöpferischen Nachahmung. Und schließlich kann diese Schau, dieser Blick durch die Ikone hindurch ins Heilige hinein, den Leidenden Trost schenken und sie eine neue Einstellung zum Leiden gewinnen lassen.
Ikonen sind symbolhafte, heilige Begegnungsräume von Gott und Mensch. Sie vergegenwärtigen das Menschwerden des Wortes Gottes und des damit verbundenen Heils. Ikonen repräsentieren den zentralen Gedanken der ostkirchlichen Erlösungslehre: Gott wurde Mensch, damit der Mensch wie Gott werde. Deswegen ist ein ostkirchlicher Gottesdienst nach byzantinischem Ritus selbst eine Ikone: Das durch den Priester im Kirchenraum vermittelte Wort und die sakralen Handlungen sind Teile einer Gesamtikone, die von den Gläubigen nicht nur geschaut, sondern körperlich, geistig und seelisch miterlebt wird. Ikonen gebührt ein ihrer Bedeutung angemessener Ort: Gelegt auf das Allerheiligste, den Altar; zur Verehrung gelegt auf „Lesepulte“ im Kirchenraum; gemalt auf Türen, Decken und Wände, befestigt am Ikonostas. Der Ikonostas (slawisch), die Ikonostase (deutsch) oder das Eikonostasion (griechisch) meint die „Bilderwand“, welche in orthodoxen Kirchen das Allerheiligste vom Kirchenschiff wohl scheidet, aber nicht trennt. Drei Türen heben während der Liturgie diese Scheidewand vorübergehend auf: Die mittlere, „die königliche Türe“ oder die „heilige Pforte“, führt direkt vor den Altar, sie darf nur von Priestern durchschritten werden. Die vom geosteten Kirchenraum aus gesehen linke oder „nördliche Türe“ führt in die „Prothesis“ – den Raum der Gabenbereitung. Die rechte Türe führt ins „Diakonion“, vergleichbar einer Sakristei.
Die Ikone ist ein Mittel der Glaubensverkündigung (Kerygma). Sie zeigt die Teilnahme der irdischen Dinge an den himmlischen Wirklichkeiten. Ihr kerygmatischer Charakter verschmilzt mit dem Gnade vermittelnden, mysterialen, in eins. Deshalb werden die heiligen Ikonen verehrt durch Kuss, Bekreuzigen, Verneigen, Niederwerfen, durch Kerzen und Weihrauch. Sie sind bildhafte Mysterien des Glaubens, sind Sakramente der Kirche. Ikonen wollen nicht die leicht erkennbare „vordergründige“ Ansicht des Gemalten darstellen, sondern die ihm innewohnende göttliche Wahrheit und Ordnung, welche sozusagen „hinter“ den vordergründig sichtbaren Phänomenen steht. Nicht alles Heilige kann auf Ikonen dargestellt werden: Westliche Heilige aus der Zeit des ersten Jahrtausends [31] gelten zwar auch der orthodoxen Kirche als Heilige, alle „späteren“ westlichen Heiligen jedoch nicht. Deswegen sind diese (z.B. der Hl. Franziskus) als Ikonen der orthodoxen Kirche nicht möglich. Das erste Ziel der Ikone ist also nicht Pracht oder Zierrat – und schon gar nicht ein „korrektes Abbild“ der dargestellten Personen –, sondern sie ist eine schlichte Aussage über den Glauben. Aus diesem Glauben hat die Ikone ihre Schönheit. Es ist die Schönheit der Hoffnung auf Erlösung, die sich besonders im byzantinischen Ritus in unwiderstehlichen Formen zeigt: „Das Element der Schönheit als der Ruhm Gottes, der die Kirche erfüllt, nimmt im orthodoxen Gottesdienst einen eigenständigen Platz ein, neben Gebet und Erbauung;…“[32] Der Mensch ist getreu dem Bilde Gottes, dem Schöpfer alles Schönen, gut geschaffen. Es liegt damit in der menschlichen Natur, nach dem Guten und Schönen zu streben. Maximus Confessor [33] schreibt in der Philokalie:
«Das Schöne ist dasselbe wie das Gute, da alles aus allen möglichen Gründen nach dem Schönen und Guten strebt und es nichts unter den seienden Dingen gibt, welches keinen Anteil hätte am Schönen und Guten. Für alle nämlich ist das Schöne auch gut, da es wirklich bewundernswert, erstrebenswert, ersehnenswert, wohlgefällig, wünschenswert und liebenswert ist. Erkenne aber, wie die göttliche Sehnsucht, welche sich von vornherein im Guten fand, die in uns befindliche gute Sehnsucht gebar, durch welche wir nach dem Schönen und Guten streben, wie einer gesagt hat: ‚Ich wurde ein Liebhaber ihrer Schönheit; ersehne sie, und sie wird dich behüten; umhege sie, und sie wird dich erheben‘ (Weish 8,2)».“[34]
Wie wahre Schönheit selbst einfachster Gegenstände auf den sie Schaffenden und auf den sie Betrachtenden wirkt, beschreibt Schopenhauer eindringlich – um wie viel stärker und inniger müssen geduldiges Malen und verehrendes Betrachten heiliger Ikonen auf uns wirken:
«Innere Stimmung, Uebergewicht des Erkennens über das Wollen, kann unter jeder Umgebung diesen Zustand hervorrufen. Dies zeigen uns jene trefflichen Niederländer, welche solche rein objektive Anschauung auf die unbedeutendesten Gegenstände richteten und ein dauerndes Denkmal ihrer Objektivität und Geistesruhe im Stillleben hinstellten, welches der ästhetische Beschauer nicht ohne Rührung betrachtet, da es ihm den ruhigen, stillen, willensfreien Gemüthszustand des Künstlers vergegenwärtigt, der nöthig war, um so unbedeutende Dinge so objektiv anzuschauen, so aufmerksam zu betrachten und diese Anschauung so besonnen zu wiederholen…» (§ 38, S. 266f.)“[35]
„Die Stimmung des Künstlers, der hier erstmalig so bezeichnet wird, überträgt sich durch das Gemälde, um das es sich in diesem Fall handelt, auf das Gemüt des Betrachters, der allein durch das Anschauen des Bildes in jenen erstrebenswerten Zustand der Ruhe versetzt werden kann.“[36] Nach Schopenhauer gibt es keinen Unterschied zwischen dem ergriffenen Wohlgefallen im Betrachten des reinen, schönen Objektiven und dem kontemplativen, entrückten Schauen eines ästhetischen Kunstwerks. Alles wahrhaft Schöne mindert und dämpft das unbewusst begehrliche Streben danach, „macht den Willen schwach“. Und es verlockt zugleich das Wesen des Menschen in seiner Herzenstiefe zur bewussten Hingabe an eben dieses Schöne. Dieses paradoxale Empfinden, diese innerlichste Umkehr und Umgewichtung ist es, welche hinführen kann zu dem uns im Innersten erschauern lassenden fascinosum et tremendum, jenem Zustand, der das Glücklichsein im Angesicht des Schönen bei weitem übersteigt, der den gläubigen Menschen seinem Ungemach oder Leiden entreißt und entrückt. Eben dies vermag die orthodoxe Ikonographie durch ihre bildgewordene Botschaft des Glaubens, durch die gemalte Predigt über die Schönheit des Glaubens in der Ikone. Hierin liegt ihr gnadenhaft tröstender und aufrichtender Sinn und Wert, liegt ihr Evangelium, ihre gute Botschaft. „…in dieser Betrachtung geht es nicht um das äußere Sehen, sondern um ein Inne-sein, einem der Dinge und sich selbst Gewahrwerden“, um die Synästhetik, wie Plotin dies genannt hat.[37]
Hier liegt ein Unterschied zwischen der griechischen theoria und der wissenschaftlichen Theorie: In der theoria, der Schau des Göttlichen, geht es um innere Bilder und Gestalten, nicht um diskursives Denken. Vor Ikonen andächtig zu beten, ist Bitten um Gegenwart und Hilfe des Dargestellten, ist Eintreten in das ununterbrochene allgemeine Gebet der Kirche. Ikonen tragen den oder die Namen der Dargestellten – sonst wären es keine Ikonen. Diese Namen sind nicht bloße äußere Erkennungs- oder Benennungsmerkmale, sondern vielmehr eine geheiligte Wesensbezeichnung. Die enge Verbindung von Name und Bild der Dargestellten sind Symbole deren realen Gegenwart und macht den heiligen Charakter der Ikone aus. Deshalb gilt die Ikone bereits nach ihrer Beschriftung im kultischen Sinne als vollständig und gesegnet und bedarf keiner weiteren Segnung. Die altkirchliche Tradition kannte noch keine Ikonen-Segnung. Man kann den Akt des Beschriftens der Ikone als einen Segnungsakt verstehen und sollte diesen deshalb mit dem entsprechenden Bewusstsein durchführen. Das Segnen oder Weihen nach orthodoxem Ritus heiligt Ikonen jedoch auf besonders innige Weise: Durch die Weihe kommt die Gnade des Heiligen Geistes auf sie herab.[38] „In der Weihe der Ikone haben wir eine sakramentale Handlung, durch die eben die Verbindung zwischen Urbild und Abbild hergestellt wird, zwischen Darzustellendem und Darstellung. Durch die Weihe geschieht in der Ikone Christi ein geheimnisvolles Zusammentreffen des Beters mit Christus.“[39] Nach orthodoxem Verständnis ist jede Ikone dann echt, wenn sie im Glauben verehrt wird. Ikonen haben ein theologisches und ein spirituelles Sinnziel: Sie sind Verkündigungen im Bild durch das Bild. Im Mysterium der göttlichen Liturgie spricht Christus selber zu uns. Deshalb spricht die Ikone in der Sprache des Kirchenvolkes, wo sie „wohnt“. Sie ist ein Element der Symbolik der dortigen Kirche und wird – außer der Namen Jesu und seiner Mutter – in der lokalen Sprache beschriftet.
„Über die Heiligung der Bilder durch die Aufschriften sagte schon Patriarch Nikephoros (806-815) von Konstantinopel: «Wie die Kirchen den Namen der Heiligen empfangen, so tragen ihn durch die Aufschrift auch deren Bilder, und sie werden dadurch geheiligt», d.h., sie vergegenwärtigen gnadenhaft das Dargestellte, werden dadurch zum Mysterium (Johannes von Damaskus) und zum Zielpunkt der Bilderverehrung.“[40]
„Selbst wenn ein westlicher Künstler bereits im 10. Jahrhundert seinen Namenszug auf sein Werk gesetzt hätte – ein Ikonenmaler würde es nie tun, weil er sich selbst nur als Medium betrachtet. Insofern könnte man sagen, dass eigentlich jede Ikone ein Acheiropoieton ist, ein nicht von Menschenhand gemaltes Bild. Der Geist Gottes ist es, der durch ein menschliches Medium malt. Die dargestellte Person lebt ohne den Maler und unabhängig von seinem Bild. Das Bild ist nur eine Art Membran, durch die der Heilige aus sich selbst in diese Welt durchschimmert. Die Ikone will kein ästhetisches Kunstobjekt eines genialen Künstlers sein, der eine Person nach seiner Vorstellung schafft und dies durch seine Signatur zum Ausdruck bringt.“[41]
Ikonen sind nicht bloße Abbilder der auf ihnen Dargestellten, sondern sie sind Zeichen deren geheimnisvollen Gegenwart mitten unter uns. Deshalb sind die Dargestellten oft durch Stilisierung verfremdet: Ikonen zeigen z.B. Christus als menschliches Porträt, aber ebenso das Unsagbare, das Göttliche seiner Natur. Ikonen bilden nicht ab, was unsere Augen sehen, sondern machen sichtbar, was wir nicht sehen. Sie zeigen die Wesenheit der Dargestellten und lassen diese zu uns sprechen. Ikonen sind für die vor ihnen Betenden Fenster zur Ewigkeit. Für die darauf Dargestellten sind Ikonen Fenster zu unserer irdischen Welt, durch welche sie auf uns schauen und zu uns sprechen. Die deutlich sichtbare Umkehr der gewohnten Perspektive zeigt sich auf Ikonen besonders in architektonischen Details: ihr zeichnerischer Fluchtpunkt liegt nicht wie gewohnt „im“ Bild, sondern vor ihm, bei den Betrachtenden. Selbst Bauliches dringt stilisiert aus der Ikone heraus auf uns ein, vermittelt uns eine Ahnung von der überwältigenden Schönheit und Macht des Reiches Gottes, wo andere Gesetze des Schauens und des Erlebens gelten.
In der Ikone wendet sich Gott selbst uns zu, sie zeigt Seine verklärte, jenseitige Welt, Seine Ideale und die Ziele Seiner Schöpfung. Unser Blick darauf ist jedoch nur sehr eingeschränkt und begrenzt möglich – dies symbolisiert die gemalte Umrahmung des Motivs – wir sehen nur bis zum Rand, dahinter beginnt das Wunder. Damit symbolisiert die Ikone sowohl die Einheit des Kosmos’ als auch die Trennung von Diesseits und Jenseits. Sie ruft uns auf zur Rückverbindung mit dem Göttlichen durch betende Versenkung.
„In der Ikonenmalerei erstand der Kirche eine Möglichkeit, in Bildern und Formen der stofflichen Welt die Offenbarung der göttlichen Welt wiederzugeben, indem sie dieselbe der Beschauung und dem Verständnis zugänglich machte. Die Ikonenmalerei drückt – wie der Gottesdienst – die Lehre der Kirche den Worten der Heiligen Schrift entsprechend aus. So enthält und predigt die Ikone dieselbe Wahrheit wie das Evangelium und ist folglich auf genauen, konkreten Angaben und nicht auf einer Erdichtung gegründet, denn sonst könnte sie weder das Evangelium erklären noch ihm entsprechen… Die Ikone ist also kein aus noch so frommem Wollen entstandenes Idealbild aus der Phantasie des Künstlers, sondern ein Abbild des jenseitigen Urbildes. In der Ikone ist etwas von der Kraft des Darge-stellten real anwesend, wirkt in diese unsere Welt hinein und nimmt die Gebete und die kultische Verehrung an, um sie an den Dargestellten, dem sie ja eigentlich gilt, weiterzugeben. Die Ikone ist eines der Mittel zur Erkenntnis Gottes, ist einer der Wege zur Verbindung mit Ihm…Ikonenmalen ist Gebet: Der Maler steht während seiner Arbeit im geistigen Zwiegespräch mit der dargestellten Person.“[42]
In diesem Zusammenhang sind auch Materialfragen bedeutungsvoll: Das Vergolden symbolisiert die Erfahrung des mystischen Lichtes Gottes, das alles überstrahlende und mit seiner Gnade das Leben erhaltende Göttliche selbst. Der dargestellte Heilige nimmt Anteil an dieser Gnade, er ist von göttlichem Licht umgeben und durchdrungen und strahlt nun selber in diesem Licht – ausgedrückt durch seinen Nimbus. Dieser ist weder Allegorie noch Attribut der Heiligkeit, sondern die zweidimensionale Darstellung einer dreidimensionalen, sphärischen Lichtwolke („Heiligenschein“) um das Haupt des Dargestellten, die mit ihm untrennbar verbunden ist. Deshalb sind Nimben immer kreisrund und nie perspektivisch verformt.
Auch die Farbsymbolik der Ikonen ist klar geregelt: Weiß symbolisiert Auferstehung und Verklärung, es kann mit Orange, Gelb und Gold in Konkurrenz treten. Der kaiserliche Purpur, beziehungsweise Rot in allen Mischungen symbolisiert auf dem Untergewand Jesu seine anfangs- und endlose göttliche Herrlichkeit und seinen Anspruch als König des Alls. Rot als Farbe des von Jesus für uns vergossenen Blutes manifestiert auch dessen Herrschaft über den Tod. Blau und Rot sind oft auch die Farben der Märtyrer. Blau als Farbe des Himmels kann – vor allem als Hintergrundfarbe – die Ewigkeit, beziehungsweise die Sehnsucht nach dem Himmel ausdrücken. Grün als Farbe der Erde, beziehungsweise der Verbundenheit mit ihr, findet sich oft beim Übergewand Christi. Die Gewandfarben seiner Mutter sind umgekehrt: Das grüne Untergewand verweist auf ihre irdische Herkunft, das rote, seltener blaue Obergewand soll ihre von Gott geschenkte Verherrlichung ausdrücken. Braun als Farbe der Erde symbolisiert Demut, Askese und Bescheidenheit.[43] Schwarz als Farbe der Finsternis [44] deutet auf den dunklen Bereich des Todes, der Hölle, der Verdammung und des Nichtwissens. „In orthodoxer Sicht bedeutet Nichtwissen Sünde, weil es uns vom Licht, von Gott trennt.“[45] Ikonen werden – im Gegensatz z. B. zur Aquarellmalerei – immer vom Dunkel ins Licht gemalt, in Analogie zur betenden Versenkung, die vom Dunkel der eigenen Seele ins göttliche Licht führen will. Damit wurde klar: Ikonen nur interessiert zu betrachten, wird deren theologisch-spirituellen Selbstverständnis nicht gerecht.
„Ikonen sind Botschaften…in der Sprache des Bildes. Wollen wir diese Botschaften verstehen, so müssen wir zum einen die Sprache dieser Bilder kennen und zum anderen mit Hilfe dieser Sprache den Inhalt der Botschaft lesen lernen. Beides ist deshalb nicht so selbstverständlich wie es scheinen mag, weil Ikonen nicht Bilder unserer westlichen Kultur, sondern Kultbilder der östlichen Christenheit sind. Sie stammen aus einer Welt, die sich nach Sprache und Inhalten in wesentlichen Punkten von unserer westlichen Kultur unterscheidet. Wer also Ikonen als Ikonen und nicht als westliche Bilder verstehen will, der muss sie so verstehen lernen, wie sie in der Kultur gemeint sind, aus der sie hervorgegangen sind. Das gilt in besonderer Weise für die Ikonen der Gottesmutter Maria.“[46]
Christian R. Buschan MTh und MSc
Notfallseelsorger Care Zürich
8633 Wolfhausen
[1] Schmidt-Leukel, Perry, Gott ohne Grenzen – Eine christliche und pluralistische Theologie der Religionen, Gütersloher Verlagshaus GmbH, Gütersloh 2005, 491f. Die originale Fußnote 43 im Zitat bezieht sich auf ebd. 202-205, wo gleiches breiter ausgeführt wird
[2] Lindenberg, Wladimir, Die heilige Ikone – Vom Wesen christlicher Urbilder im alten Russland, mit einem Beitrag von Prof. Dr. Wolfgang Kasack, Verlag Urachhaus Johannes M. Mayer GmbH, Stuttgart 1987, 55
[3] Jungclaussen, Emmanuel, Abt: Die Marienfrömmigkeit der Ostkirche, Schriften zur orthodoxen Spiritualität, Benediktinerabtei Niederaltaich, Nieder-Bayern, undatiert, 4
[4] Jungclaussen, Herzensgebet, 106
[5] Bachl, Gottfried, Eucharistie – Macht und Lust des Verzehrens, EOS Verlag, St. Ottilien 2008, 35f
[8] γράφειν „graphein“ bedeutet im Griechischen sowohl „ritzen“, „schreiben“ als auch „malen“. Der allgemeinen deutschsprachigen Gewohnheit folgend, sowie mit Rücksicht auf die leichtere Verständlichkeit des Textes, wird im Weiteren der Begriff „Ikonen malen“ verwendet.
[9] Thon, Nikolaus, Ikone und Liturgie, Verlag Paulinus, Trier 1979, in: Fischer, Gottesmutterikone, 55
[10] Johannes von Damaskus, Drei Verteidigungsschriften gegen diejenigen, welche die heiligen Bilder verwerfen, herausgegeben und eingeleitet von Gerhard Feige, übersetzt von Wolfgang Hradsky, St. Benno-Verlag, Leipzig 1994, 2. Aufl. 1996
[11] Dieses Konzil war bis heute das letzte ökumenische Konzil, das Ost- und Westkirche gemeinsam feierten
[12] Tamcke, Das orthodoxe Christentum, 16f
[13] Vgl. Stiefenhofer, Dionys, Des Heiligen Johannes von Damaskus genaue Darlegung des orthodoxen Glaubens, Die drei Apologien der Bilderverehrung, in: Bardenhewer, O./Weyman, K./Zellinger, J., Bibliothek der Kirchenväter, Eine Auswahl patristischer Werke in deutscher Übersetzung, Bd. 44, Verlag Josef Kösel & Friedrich Pustet KG, München 1923, LXVIIf
[14] Tamcke, Achtsamkeit, 25ff
[15] Johannes von Damaskus, Verteidigungsschriften, Or. II/5, 61
[16] „Das Wunder ist keine magische Handlung, die Übernatürliches vollbringt, sondern eine Wirkung des lebendigen Gottes, der die Zuwendung des Menschen zur Quelle des Lebens begleitet.“ In: Kallis, 100 Fragen, 161
[17] Johannes von Damaskus, Verteidigungsschriften, Or. I/8, 32f
[18] *295 †373, Kirchenvater, Bischof von Alexandria
[19] gr. „Nus“ oder „Nous“ meint die Fähigkeit des Menschen, etwas geistig erfassen zu können, meint die Möglichkeit, tiefere geistige Einsicht gewinnen zu können – dies jedoch in klarer Abgrenzung zur Logik
[20] Athanasius, Leben des heiligen Antonius (Vita Antonii), Bibliothek der Kirchenväter, 1. Reihe, Band 31, ausgewählte Schriften Bd. 2, aus dem Griechischen übersetzt von Anton Stegmann, München 1917, Ende 74. Kapitel
[21] Tamcke, Das orthodoxe Christentum, 68f
[22] *354 †430, grosser Kirchenlehrer und Philosoph, Bischof von Hippo Regius (heute Annaba in Algerien)
[23] Fischer, Gottesmutterikone, 75
[24] um 150 entstanden; nicht Teil des ostkirchlichen Kanons, enthält jedoch wichtige Elemente byzantinischer Liturgie
[25] Vgl. Felmy, Karl Christian, Das Buch der Christus-Ikonen, Verlag Herder, Freiburg i.Br./Basel/Wien 2004, 9ff
[26] Gerl-Falkowitz, Hanna-Barbara, Menschliches Dasein zwischen Bild und Bildfreiheit, in: Una Sancta 4/2009, 250f
[27] Olewinski, Dariusz Józef , Um die Ehre des Bildes – Theologische Motive der Bilderverteidigung bei Johannes von Damaskus, EOS Verlag, Erzabtei St. Ottilien 2004, 491. Vgl. hierzu auch Gen 32,31: „Denn ich sah Gott von Angesicht zu Angesicht, und meine Seele wurde gerettet“
[28] H. Gekle, Bild, Wort, Geschlecht. Jüdische Perspektiven bei Sigmund Freud, in: Bilderverbot, hg. Von M. Rainer und H.-G. Janssen (Jb. Polit. Theol.. Bd. 2), Münster 1997, 95, z. n. Abt Dr. Marianus Bieber OSB, in: Die beiden Türme Nr. 96, Jg. 45, 2/2009, 59
[29] Evagrios erkannte im Jähzorn eine positive, „natürliche Aufgabe, für die Tugend zu kämpfen“, er sei eine „Kraft der Seele, die die Gedanken vernichtet.“ Evagrios empfahl, „den Jähzorn vor dem Gebet gegen jene zu richten, die uns versuchen, d.h. die Dämonen. Dies ist jener vollkommene Hass, der uns so überaus nützlich ist.“ In: Evagrios, Der Praktikos, 131f. Weiteres über den Jähzorn, der nur durch die Liebe geheilt werden könne, ebd. 167
[30] Frankl unterscheidet drei „Hauptstraßen zum Sinn“: 1. Das schöpferische Tun des homo faber, 2. die Beziehungsarbeit des homo amans und 3. das Gewinnen neuer Einstellungswerte und Haltungen des homo patiens
[31] Genauer: vor der Trennung vom 16.7.1054 in eine West- und eine Ostkirche
[32] Bulgakov, Die Orthodoxie, 198
[33] *580 †662, griechischer Theologe und kaiserlicher Sekretär
[34] Z. n. Müller, Hesychasmus, in: Baier, Handbuch Spiritualität, 178
[35] Schopenhauer, Arthur, Die Welt als Wille und Vorstellung, nach den Ausgaben letzter Hand hg. V. Ludger Lütkehaus, Bd. I u. II, Zürich 1988, in: Möbuß, Susanne, Schopenhauer für Anfänger – die Welt als Wille und Vorstellung, Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH, München 1988, 122
[37] Abt Dr. Marianus Bieber OSB, in: Die beiden Türme Nr. 96, Jg. 45, 2/2009, 66
[38] Vgl. Byzantijns Liturgikon, Tilburg-Zagreb 1991, 674, in: Schuh, Lidy: Licht von Innen – Ikonen für uns heute. Geb. Ausg., Verlag Der christliche Osten, Würzburg 2003, 134f
[39] Bulgakov, Die Orthodoxie, 213
[40] Musebrink, Philomena, Gottesmutterikonen betrachten, Verlag Der Christliche Osten, Würzburg 1994, 10
[41] Butzkamm, Aloys , Faszination Ikonen, Verlag Bonifatius GmbH, Paderborn 2006, 30
[42] Musebrink, Gottesmutterikonen, 8f
[43] Man denke an die oft braunen Mönchskutten
[44] Ein weiteres Paradoxon: „Dionysios schreibt zum Gottesbegriff, Gottes Transzendenz verbiete es, ihn mit materiellen Zeichen beschreiben zu wollen. Es sei »unschicklich«, ihn mit »Licht« zu umschreiben, da Er ebensosehr »Nichtlicht« sei. Folgerichtig nennt er Ihn »überlichtige Finsternis«17 (eine complexio oppositorum in se). Auf Ikonen wird deshalb das Symbol Gottes, die »Sphaira«, meist dunkel, ja schwarz dargestellt. Dionysios ist der Ansicht, daß Gott nie verstehbar, wohl aber erfahrbar sei, indem man die absolute Finsternis seiner Unerklärbarkeit annimmt, oder: »Je tiefer man in das göttliche Geheimnis eindringt, desto dunkler wird es.«18“, in: Hoerni-Jung, Bild des Weiblichen, 19. Die originalen Fussnoten 17 und 18 sind hier nebensächlich, sie beziehen sich auf Onasch, Konrad, z. n. C.G. Jung, Analytische Psychologie und dichterisches Kunstwerk, in: GW 15, 94
[45] Hoerni-Jung, Bild des Weiblichen, 44
[46] Fischer, Gottesmutterikone, 12